Liebe Festgemeinde, liebe Schwestern und Brüder!
Was bedeutet Weihnachten? Da gibt es die Geschichte von der Krippe, den Hirten, den Engel, von Jesu Geburt.- Wir haben sie gerade gehört.
Und dann gibt es ein paar wenige karge Sätze des Apostel Paulus, die er in seinem Galaterbrief schreibt, dort im 4.Kapitel. Keine Erzählung, eher im Telegrammstil oder WhatsApp Länge:
Predigttext Gal 4,4-7 nach der BasisBibel:
4Aber als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn. Er wurde von einer Frau geboren und war dem Gesetz unterstellt.5Dadurch wollte Gott alle freikaufen, die dem Gesetz unterworfen waren. Auf diese Weise wollte Gott uns als seine Kinder annehmen. 6Weil ihr nun seine Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt. Der ruft: »Abba, Vater«!7Du bist also kein Sklave mehr, sondern ein mündiges Kind. Wenn du aber Kind bist, dann bist du auch Erbe. Dazu hat Gott dich bestimmt.
Für Paulus eine Zeitenwende. Mit der Geburt Jesu ist es soweit: Gott zeigt sich: Nicht als Herrscher der Welten, nicht in unendlicher Distanz, als hoch erhaben, thronende Majestät, sondern kommt uns nahe, ganz nahe, so nahe wie nur ein Kind uns kommen kann. Und er adoptiert uns damit, nimmt uns hinein in seine Familie. Wird unser Vater.
Die Zeit ist gekommen, es ist soweit. Sagt Paulus. Das Gefühl dieser Zeitenwenden im Leben, ob klein oder groß, kennt wahrscheinlich jede und jeder: Das Gefühl, es ist soweit:
Als die Eltern an Weihnachten das Glöckchen bimmeln ließen, die Tür zum Wohnzimmer aufgeht, und die kleine Sophie oder der kleine Philipp endlich hineindarf: Mit klopfendem Herzen und strahlenden Augen: Der hell erleuchtete Weihnachtsbaum, drunter die Geschenke. Es ist soweit, Weihnachten.
Später vielleicht und mit viel weitreichenderen Folgen: Die Tür zum Trauzimmer geht auf. Zwei sich liebende und ihre Trauzeugen, Familien, Freunde betreten das Zimmer. Und der Standesbeamte stellt fest: Es ist soweit!
Die Sprechstundenhilfe bittet den Patienten, die Patientin aus dem Warteraum in das Zimmer der Ärztin, die das Ergebnis der mit Bangen erwarteten Untersuchung verkünden wird. „Es ist soweit.“
Der israelische Ministerpräsident tritt vor die Fernsehkameras der Nation, ja der ganzen Welt, dass er den Befehl gegeben habe, eine Militärintervention zu starten. Jeder weiß, es folgen Tote, Blut, Elend. „Es ist soweit.“
Jeder, jede von uns heute hier in diesem Raum weiß um diese drei Worte und hat in der eigenen Lebensgeschichte Situationen erlebt, in denen es in guten, wie in bösen Tagen, in glücklichen wie in traurigen Momenten genau darum ging: „Es ist soweit.“ Und jede und jeder erinnert sich: Nach dem „Es ist soweit“ hat sich unsere Welt verändert.
Weihnachten hat die Qualität eines solchen Lebenswortes, und sei es nur in der Erinnerung: „Es ist soweit.“ In allem Brauchtum, in allen schönen und gewohnten Sitten, in allem „alle Jahre wieder“ steht der Satz, der doch das Gegenteil aller Gewohnheit und Routine ist: „Es ist soweit.“
Es ist soweit. Zeitenwende im Kleinen wie im Großen. Paulus sagt es in seinem Brief an die Galater und heute uns in sehr eindrücklicher Weise.“
„Aber als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.“
So wie einzelne Worte unsere sehr persönliche Zeitenwende einleiten, so ist es mit dem Weihnachtswort „Aber als die Zeit gekommen war …“. Zeitenwende der Menschheit: Gott hat sein Gesicht gezeigt. Kein Versteckspiel mehr.
Und es gibt keinen Weg zurück. Gott zeigt uns, was denn möglich wäre in dieser Welt an Frieden, an Menschlichkeit, an Liebe, an Licht. Und lässt keine Zweifel: Die Raketen auf Israel, die Granaten in der Ostukraine, die Bomben auf Wohnhäuser in Gaza, Menschen, die im Mittelmeer hilflos ertrinken, Väter und Mütter, die in Geiselhaft ein Martyrium erleiden. Das ist nicht gottgemäß. Das ist auch nicht menschengemäß. Nie und nimmer dürfen wir uns damit abfinden. Gott will die andere Welt, die Menschliche.
Sein Licht erstrahlt im Dunkel der Welt. Wie sehr brauchen wir seine Lichtkraft inmitten der tosenden Gewalt, inmitten der furchtbaren Kriegsereignisse, inmitten des Terrors, der nicht nur Israel erschütterte, inmitten all des Leids. Er stößt uns immer neu an, unsere Herzen und Hände dem Frieden zu reichen und nicht dem Krieg, der Versöhnung zu dienen und nicht dem Hass. Sohn Gottes, weil er von Gottes Geist berührt, ja aus Gottes Geist geboren, den Mut aufbrachte zu einem freien, mündigen Leben. So will er auch uns haben: gottergeben im Vertrauen, frei und mündig im Leben.
Doch wie soll Gottvertrauen gehen inmitten von Krieg und Gewalt unserer Ängste, inmitten der Zwänge des Lebens? Indem wir anfangen, uns selber zu trauen. Indem wir uns für Gott öffnen, den Grund und Ziel unseres Lebens. Indem wir neu einen ersten freien Schritt wagen und dann den zweiten, den dritten.
Das ist, was Paulus an Jesus entdeckte. Das ist, was die ersten Christengemeinden zu leben wagten, freies, mündiges Leben. Das ist, was die Worte für unsere heutige Weihnachtsfeier uns sagen: Gott sandte seinen Sohn, damit wir als mündige Söhne und Töchter Gottes zu leben beginnen. Nicht verhärten, innerlich und äußerlich, in dieser harten Zeit. Weich bleiben, fähig zum Mitgefühl, verantwortlich, wo Unrecht geschieht. Fähig zur Liebe – und sei es nur in kleinen Gesten.
Ich denke an eine Geschichte, die am Ende des zweiten Weltkriegs spielt:
Da nahm sich eine alte lettische Frau deutscher Soldaten an, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren. So oft es ging, ließ sie ihnen ein Stück Brot zukommen. Dabei wurde sie eines Tages erwischt. Der sowjetische Lagerchef zitierte sie zu sich. Er fuhr sie schroff an: Hast du nicht gelesen, dass es strengstens verboten ist, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zu geben? Die alte Frau nickte gelassen, als sie antwortete: Ja, Herr Lagerkommandant, ich habe aber nicht irgendwelche Lebensmittel gegeben. Ich habe Brot gereicht. Das ist ja nun einerlei, fauchte der Mächtige zurück. Hast du also gewusst, dass es verboten ist? Ja, sagte die Frau. So steht es geschrieben. Aber man darf nicht verbieten, unglücklichen Menschen zu helfen! Der Kommandant, jetzt gefährlich leise, fragte zurück. Heißt das, dass du ihnen auch weiterhin Brot geben wirst? Die alte Frau sieht ihm erneut in die Augen: Genosse Direktor, als die Deutschen hier in Lettland die Herren waren, brachten sie russische Kriegsgefangene hierher zur Arbeit. Die hatten großen Hunger, und ich habe ihnen, so oft ich konnte, Brot gegeben. Dann brachten sie Juden hierher. Die litten auch, weil sie so wenig zu essen bekamen und ich habe ihnen Brot gegeben. Jetzt sind die Deutschen die Unglücklichen und leiden Hunger, und ich gebe ihnen von dem Brot, das ich habe. Und wenn Sie, Genosse Direktor, eines Tages das Unglück haben sollten, hierher als Gefangener zu kommen und Hunger zu leiden, dann werde ich auch Ihnen Brot geben. Die alte Frau ließ den Lagerchef stehen, drehte sich um und ging. Der Kommandant aber ließ sie gewähren.
Freies, mündiges Leben, voller Vertrauen zum menschgewordenen Gott, mutig in der Liebe, so will Jesus uns haben. So inspiriert er bis heute Menschen. Das ist, was Paulus an Jesus entdeckte und ihn zum Völkerapostel machte. Es ist soweit: Wagt es, Gott zu trauen. Hört auf die Stimme des Herzens. Lebt so, wie es Söhne und Töchter Gottes tun. Das Leben darf neu beginnen, gottverbunden und frei.
Paulus nennt uns mündige Kinder Gottes. Er ruft auch uns in die Verantwortung zu den mutigen Schritten, in die freie Gestaltung des Lebens und untrennbar davon in die geistige Hingabe an Gott, der die Welt hell macht.
Paulus braucht für seine Zeitenwende keinen weihnachtlichen Glanz. Unsere Art Weihnachten zu feiern, kennt Paulus nicht. Er redet nicht von Engeln und den Hirten auf dem Felde. Da ist kein Stern, der den Weg weist und keine Weisen aus dem Morgenland. Und doch ist in seinen Worten alles da, was wir am Weihnachten feiern. Wir sind Gottes Kinder – dank dem, der für uns geboren, für uns gestorben ist, dank dem, der uns aus falschen Bindungen gelöst hat, damit wir von Gott geliebt und gesegnet, mündig zu leben beginnen.